Zeitreise zu meinen Wurzeln

Warum fahre ich zig Kilometer zu einem aufgelassenen Geschäft, um dort vor leeren Regalen zu stehen? Weil dieses Geschäft vor rund 100 Jahren in Betrieb war, und ziemlich sicher meine Oma dort einkaufen ging. Es steht nämlich in ihrem Geburtsort.

Ganz im Osten Österreichs zoomen wir im Bundesland Niederösterreich ins Weinviertel hinein, noch näher ins Marchfeld und dann - wie mit dem Vergrößerungsglas - auf eine winzige Ortschaft am österreichisch/slowakischen Grenzfluss March. Da liegt Zwerndorf, wo meine Oma auf einem Bauernhof mit fünf Geschwistern aufwuchs. Später ging sie nach Wien und dann nach Oberösterreich, aber das ist eine andere Geschichte.

 

Großmütter sind ... einzigartig

Meine Oma war eine exzellente Köchin, liebte Blumen und ihren Garten mit Gemüse und Obst. Wenn sie Hühnersuppe kochte, steckte sie mir schon vor dem Essen das Kragerl zu. Ich habe in köstlicher Erinnerung, wie ich diesen Hendlhals heiß, tropfend und in graubrauner Farbe in meinen kleinen Händen hielt und hingebungsvoll abnagte. Diese nette Aufmerksamkeit meiner Oma hatte nur einen klitzekleinen Nachteil: ich war nach dem Kragerl bereits satt, musste Suppe und Hauptspeise auslassen und wollte von der Nachspeise höchstens noch einen Polsterzipf verspeisen. Oder den äußersten Rand vom Apfelstrudel, dort wo der Tag ganz knusprig mit einem Hauch von Butterbröseln, aber bereits ohne Äpfel war.

 

Meine Zeitreise

Zurück zum leeren Geschäft in Zwerndorf. Im Rahmen des Viertelfestivals Niederösterreich stellte die Filmemacherin und Fotografin Kitty Kino in eben diesem Geschäft großformatige Landschaftsfotos aus. Das Geschäft gehört heute einem gewissen Helm Pepi. Die Kitty und der Pepi kennen einander schon was weiß ich wie lange. Es gibt ein Film Projekt, dass die beiden vor vielen Jahren miteinander gemacht haben. Ein Teil des Films wurde in diesem Zwerndorfer Geschäft gedreht, und nun dient das Lokal für wenige Wochen als Galerie für Kittys Fotos. Originell. Die Eröffnung der Vernissage stellte ein gesellschaftliches Ereignis in der kleinen Ortschaft dar, bei dem unter anderem eine Jugendbekanntschaft von Kitty Kino mit der Frau des ehemaligen Landeshauptmanns zutage trat. Ich war bei diesem Top-Event leider nicht dabei.

 

Aber jetzt, wenig später, reiste ich in Zwerndorf an und betrat das Lokal. Nicht nur eine örtliche Reise, auch eine Zeitreise tat sich auf. Ich fotografierte quasi jede Lade und stellte sie mir voll mit Waren vor, und am Verkaufspult sah ich in meiner Fantasie Zwerndorfer Frauen, jung und alt,  mit großen Einkaufstaschen. Sie bestellten beim emsig hin- und herlaufenden Geschäftsinhaber Reis, Waschmittel, Nylonstrumpfhosen-Impregnationsmittel (dieses Produkt war tatsächlich noch vorrätig, sonst leider fast gar nichts mehr). So viel zu meiner gedanklichen Zeitreise. Die Fotokünstlerin Kitty Kino war bei meinem Besuch auch anwesend, und es war nett mit ihr zu plaudern.

 

Eine Absage zu verkraften

Der heutige Geschäftslokalinhaber, eben der Helm Pepi, kocht Wunderbares im 3er Wirtshaus in Zwerndorf. Als ich vor einiger Zeit meinen Weinviertel Reiseführer schrieb, wollte ich darin den berühmten, aber unberechenbaren Kochkünsten des Herrn Helm einen Beitrag widmen. Er ließ mich damals jedoch wissen, dass er größten Wert darauf lege, in keinem Reiseführer auf dieser Welt erwähnt zu werden. Somit erhielt ich die erste und einzige Absage, einen meiner scharf beobachteten und empathischen und pointierten Artikel schreiben zu dürfen. Ausgerechnet in Zwerndorf.

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